Oliver Franke eröffnete das Gespräch zum Stimmungsbild im deutschen Mittelstand mit einer erfreulichen Nachricht. „Die Ergebnisse unserer aktuellen Umfrage haben uns positiv überrascht. Nahezu zwei Drittel unserer Mitglieder haben die Situation ihrer Unternehmen im schwierigen Jahr 2022 als gut bis sehr gut bewertet“, sagte der Vorstandsvorsitzender vom Verband und Serviceorganisation der Wirtschaftsregionen Holstein und Hamburg e. V., kurz VSW. Gemeinsam mit VSW-Geschäftsführerin Nicole Marquardsen hatte Franke den Stormarner Landtagsabgeordneten Tobias Koch, CDU-Fraktionsvorsitzender im Kieler Landtag, sowie Dr. Martin Lüdiger, Kreisvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) Stormarn der CDU, ins Reinbeker Schloss zum Hintergrundgespräch eingeladen — frei nach dem Motto „Politik will wissen, was die Wirtschaft denkt, und die Wirtschaft will wissen, wie die Politik lenkt“.
Auch die Gäste waren erfreut über die „nach wie vor optimistische Einschätzung“ (Tobias Koch). Gleichwohl zeige die Umfrage aber auch, so Oliver Franke, dass die Unternehmen für das Jahr 2023 eher vorsichtige Erwartungen formuliert und trotz Zuversicht auch gravierende Risiken und Gefahren als mögliche Wachstumsbremse benannt hätten. Als größte und andauernde Sorge sei der akute Mangel an qualifizierten Arbeitskräften benannt worden, der durch die demographische Entwicklung in Deutschland noch verstärkt werde. „Der Fachkräftemangel beunruhigt die deutschen Unternehmen am meisten. Wie kann Politik bei der Lösung dieses Problems helfen?“, fragte der VSW-Vorsitzende.
„Es ist klar, dass wir die Nachfrage nicht mehr aus eigenem Potenzial decken können“, bestätigte Tobias Koch. „Es müssen qualifizierte Arbeitskräfte in anderen Ländern angeworben werden.“ Das mache ein weltweites Screening und Recruiting von Personal notwendig, vor allem dort, wo die Ausbildungssituation gut sei und es mehr Fachkräfte gebe, als vor Ort gebraucht würden. Das Anwerben, so Koch, sei vor allem eine Aufgabe, die von deutschen Unternehmen selbst beziehungsweise von ihren Interessenverbänden übernommen werden müsse. Die Politik wiederum könne dabei helfen, bürokratische Barrieren in Deutschland möglichst abzubauen. Die Regierung in Schleswig-Holstein habe das erkannt und handele bereits. „Wir haben zum Beispiel mehr als drei Millionen Euro für ein sogenanntes Welcome Center im nächsten Haushalt eingestellt, um Fachkräfte zu gewinnen. Wir wollen Arbeitnehmern aus anderen Staaten den Einstieg in Deutschland erleichtern, indem wir die Aufgaben verschiedener Behörden von einer Stelle erledigen lassen, damit Bewerber etwa für die Anerkennung ihrer Abschlüsse, ihren Aufenthaltsstatus und das Wohnrecht nicht zeitraubende umständliche Wege gehen müssen“, sagte Koch. Außerdem wolle die Landesregierung intensiv die Infrastruktur für den Arbeitsmarkt verbessern, indem sie den Bau bezahlbaren Wohnraums für die Jahre von 2023 bis 2026 mit einer Milliarde Euro fördere.
Als zusätzliche Belastung für den Arbeitsmarkt nannten Marquardsen und Franke die Rente mit 63, die zu viele Fachkräfte — forciert durch Corona-Effekte — für einen frühzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben genutzt hätten: „Das hat zu einer Riesenlücke auf dem Arbeitsmarkt geführt. Wir wünschen uns, dass diese Politik von der Bundesregierung rasch korrigiert wird“, sagte Oliver Franke.
Weitere große Sorge der Unternehmen sind die Energiekostensteigerungen. Die Umfrage habe jedoch ergeben, so Marquardsen und Franke, dass dies ein Problem sei, dass das Gros der Unternehmen in den Griff bekomme, etwa über Produktivitätssteigerungen und Einsparungen sowie durch Preiserhöhungen. Es sei zwar ermutigend, dass deutsche Unternehmen auch diesen Stresstest erfolgreich bewältigen würden, sagte Tobias Koch, dennoch blieben höhere Energiepreise ein Problem: „Wir müssen von einem dauerhaft höheren Energiepreislevel ausgehen. Die niedrigeren Preise waren ein Wettbewerbsvorteil, den wir nicht mehr haben.“ Die veränderte Situation betrachte die Landesregierung in Schleswig-Holstein aber auch als Chance zum verheißungsvollen Umbau. Koch nannte als Beispiele dafür das Bemühen des schwarz-grünen Kabinetts von Daniel Günther um den Bau einer Batteriefabrik von Northvolt bei Heide, die energetisch von der Windkraft im Lande profitieren soll, sowie die Förderung von Wasserstofftechnologie-Forschung. Tobias Koch: „Schleswig-Holstein will Geschichte schreiben und dem Vorbild Bayerns und Baden-Württembergs bei der mustergültigen Entwicklung von Industrie-Standorten folgen.“
Oliver Franke artikulierte im Kontext der Energiekrise die Kritik vieler Unternehmen an der Politik der Bundesregierung, den Ausstieg aus der Kernenergie angesichts der akuten Energieprobleme zu wenig flexibel zu handhaben. „Wir wünschen uns längere Laufzeiten, solange erneuerbare Energien den Bedarf nicht abdecken“, erklärte dazu Nicole Marquardsen. MIT-Stormarn-Vorstand Martin Lüdiger forderte, dass man sich am Standort Deutschland auf seine Stärken besinne und den Mangel an natürlichen Ressourcen durch Forschung kompensiere — und nicht vielversprechende Potenziale wie die Kernfusion aus ideologischen Gründen von vornherein ausschließe, sondern bei der Grundlagenforschung eine Spitzenposition erlange. „Kernfusion wird die saubere und zuverlässige Energie der Zukunft werden“, sagte Lüdiger und mahnte: „Wir sollten gewarnt sein, denn bei der neuesten Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung zu Standortfaktoren für Familienunternehmen ist Deutschland unter 21 Industrienationen auf Platz 18 gelandet.“
Der VSW
Wenn es um ein aktuelles Stimmungsbild der mittelständischen Wirtschaft geht, ist der VSW eine erste Adresse. Der Verband mit Sitz in Glinde vertritt rund 450 Unternehmen, die überwiegend in Stormarn zu Hause sind, aber auch aus dem benachbarten Kreis Segeberg beziehungsweise aus Hamburg kommen, vereinzelt auch von weiter her in Schleswig-Holstein oder aus dem Bundesgebiet. Der VSW unterstützt seine Mitglieder vor allem durch arbeitsrechtliche Beratung und Prozessvertretung, ermöglicht das Netzwerken durch Unternehmertreffen und bietet Fortbildungen an.
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